Blumental

"Blumental!?"
"Ja!"
Blumental schaltete wieder ab. Die weiteren Namen die der Lagerkommandant vorlas nahm er nur noch als leises Murmeln wahr. Er fror. Mit nackten Füssen stand er im schlammigen Schnee. Seine dünne Hose und das löchrige Hemd schützten ihn kaum gegen den schneidenden Wind, der durch das Gefangenenlager pfiff. Der Apell war zuende. Die Gefangenen trotteten unter Aufsicht der Wachen zur Werkzeugausgabe. Der Lagerkommandant stand dabei und kontrollierte aufmerksam. 'Von Göricke', war sein Name. SS-Sturmbandführer Klaus von Göricke. Jetzt Lagerkommandant des Konzentrationslagers Böllwitz. Ein kleines Lager an der polnischen Westgrenze.
Blumental nahm seine Spitzhacke entgegen und schlurfte den Pfad zum Bruch entlang. Schon lange hatte er keine Kraft mehr um Steine zu brechen. Aber er wußte was mit denen geschah die keine Kraft mehr zum arbeiten hatten. Am Zaun, der sich am Pfad entlangzog hing ein Schild. Auf diesem stand geschrieben: 'Arbeit macht Frei'. Blumental hatte diesen Spruch schon oft gelesen in den letzten fünf Monaten. Doch jetzt hatte er keine Kraft mehr um über ihn zu lachen. Oder keinen Glauben. Dann sah er Simon in der Gruppe.
"Shalom, Simon", sagte er. "Shalom, Rabbi Jacob", sagte Simon. Blumental war orthodoxer Jude und Simon zog ihn immer damit auf, daß er den Glauben predigte und man ihn nicht verlieren sollte. Simon bestand darauf Deutscher zu sein. Auch jetzt noch, in diesem Lager. In Wirklichkeit war er Katholik, hatte sich als Kind umtaufen lassen. Doch den Nazis war das egal.

Als die Sonne untergegangen war, wurden die Häftlinge wieder ins Lager zurückgebracht. "Zum Glück geht im Winter die Sonne früher unter", dachte Blumental. In ihren Baracken bekamen sie einen Kanten Brot und schmutziges Wasser. Das war die gesamte Mahlzeit für diesen Tag. Die dreckigen Lampen warfen ein schummriges Licht auf die zusammengekauerten Gestalten. Dann wurde der Verschlag aufgerissen und Von Göricke kam, patrulliert von zwei Wachen, herein. Er hielt ein Blatt Papier in der Hand und hob es vor sich. Dann las er Namen vor. Als er geendet hatte verzog er die Nase. "Hier riecht es wie in einem Schweinestall! Alle die ich eben vorgelesen habe. Mitkommen. Duschen." Blumental war froh nicht auf der Liste gestanden zu haben. Die Armen die betroffen waren standen langsam auf und trotteten nach draußen. Die Tür wurde wieder zu geworfen. Simon setzte sich zu Blumental und flüsterte: "Die werden sicher nur verlegt."
Blumental starrte Simon durchdringend an. "Wir beide wissen, daß sie nicht duschen gehen werden", sagte er melancholisch. Simon presste die Lippen zusammen und rutschte von Blumentals Bett. Dann ging er weg. Blumental schob sich das letzte Stück seines trockenen Brotes in den Mund und begann die Kaddish zu summen. Ein paar Mitgefangene stimmten leise in den Gesang ein.
Früh am Morgen wurde die Tür wieder aufgerissen. Menschen wurden hineingestoßen. Dann schloss sich die Tür wieder. Blumental drehte sich auf seinem Bett etwas um und beobachtete die Neuen. Jeder von ihnen ging zu einem der leeren Betten, die seit gestern verwaist waren, und legte sich erschöpft nieder. Blumental schloss wieder die Augen. Wollte schlafen, träumen. Die einzige Möglichkeit nutzen, von hier zu entkommen. Keiner kümmerte sich um die Neuen. Jeder hatte seine eigenen Probleme. Später stand Blumental wieder frierend im Schnee und wartete darauf, daß sein Name genannt wird und er mit 'Ja!' sich melden konnte. Dann schlurfte er zur Werkzeugausgabe und wartete förmlich auf die Hänseleien von Simon. Aber Simon blieb ihm heute fern. Das störte ihn aber wenig. So konnte er sich bei der schweren Arbeit darauf konzentrieren nicht zusammen zu brechen.
Als die Sonne begann unterzugehen wurden die Gefangenen wieder ins Lager getrieben und Blumental nahm sein Stück Brot. Er ließ sich aber erschöpft aufs Bett fallen ehe er sich dem Brot widmen wollte. Er sah seine Frau vor sich und träumte von Pretnitzc, dem kleinen Dorf in dem er gewohnt hatte. Als er wieder die Augen aufschlug und sein Brot essen wollte, stellte er fest, daß es ihm jemand gestohlen haben mußte. Sofort setzte er sich auf, sodaß ihm schwindlig wurde. Aber er konnte niemanden sehen der zwei Stück Brot hatte. Nur Simon sah er, der an einem Pfosten gelehnt, ihn mürrisch musterte. Blumental ging zu ihm hin und sagte: "Hast du gesehen wer mein Brot genommen hat, Simon." Aber Simon verzog verächtlich den Mund und sagte: "Nein, Rabbi Jakob! Bin ich dein Kindermädchen, oder was? Oder willst du etwa sagen, daß es dir um das Brot leid tut? Was ist mit deiner Fürsorge anderen gegenüber! Ihr Juden seid doch so. Aber was rede ich! Ihr seid doch sowieso alle Raffzähne! Die im Volksempfänger hatten schon Recht als sie sagten, daß der Jude am Elend schuld sei. Durch seinen Geiz und seine Herzlosigkeit." Blumental war es zu schwindlig um mit Simon zu streiten und ihm zu erklären, daß er auch Jude sei. Also setzte er sich benommen auf seine Liege. Dann fiel er in einen unruhigen Schlummer. Aber sein knurrender und schmerzender Magen weckte ihn noch öfters in dieser Nacht.

Am nächsten Tag konnte er kaum noch beim Appell stehen und schleppte sich danach zur Werkzeugausgabe. Simon stand da und grinste: "Na Rabbi Jakob? Siehst schlecht aus. Bist du krank?" Blumental hob die Augen und warf Simon einen mitleidigen Blick zu. Dann nahm er seine Spitzhacke und ging an seinen Platz. Doch er schaffte es nicht sich auf den Beinen zu halten. Als er umkippte schlenderte eine Wache zu ihm und schrie: "Na, du Schwein? Bist wohl noch müde?" Dann trat er Blumental in den Bauch und Jakob krümmte sich am Boden. Doch der Wache schien das zu gefallen und so wurde er noch mehr getreten, bis der Wachmann sich angewiedert umdrehte und sagte: "Los! Bringt ihn weg!"
Blumental wachte erst am Abend wieder auf, als die anderen Gefangenen von der Arbeit kamen. Jeder von ihnen hielt ein Stück Brot in der Hand und aß es langsam. Als sie sich auszogen und sich zum schlafen hinlegen wollten wurde die Tür aufgerissen. 'Von Göricke' stand im Türrahmen und verzog das Gesicht. "Mann! Stinkt's hier. Ich glaube es ist mal wieder Zeit für die Dusche!" Dann holte er ein Stück Papier aus dem Mantel und begann vorzulesen. Namen. Als der Name 'Blumental' fiel, wollte Jakob fast aufspringen und 'Ja!' schreien. Aber dann fiel ihm ein wo er war und was das alles zu bedeuten hatte. Er drehte sich um und sah in das düstere Licht der Baracke und erkannte Simons Gesicht, welches ihn selbstzufrieden angrinste. Aber in diesem Moment fiel auch Simons Name. Und alle Schadenfreude wich aus seinem Gesicht. Er schrie: "Wieso ich? Nein nicht ich! Ich arbeite doch gut und hart. Wieso ich?" Aber die Wachen zerrten ihn aus der Baracke. Blumental schloss sich den anderen, die jetzt aufgestanden waren um hinauszugehen, an. Die Wachen brachten sie zu einem flachen Bau der auf dem Dach einen großen Rauchabzug hatte. Vor der Tür mußten sie sich im Schnee ausziehen. Und Simon, der laut wimmerte, wurden die Kleider vom Leib gerissen. Die Wachen scherzten und sagten: "Zum duschen brauchst du die nicht, Judensau!"Aber Simon wehrte sich und schrie: "Ich bin kein Jude! Ich bin kein Jude!" Doch er wurde mit den anderen Gefangenen in das Gebäude getrieben. Eine nackte Glühbirne erhellte den Raum. Er war wohl einstmals weiß gekachelt. Aber die Platten waren nun grau und zersprungen. An der gegenüberliegenden Wand waren Duschen. "Duschen", schrie Simon heiser. "Duschen, wir sollen nur duschen!" Die anderen Häftlinge sahen ihn Mitleidig an. Dann wurde die Tür ins Schloß geworfen und verriegelt. Die Glühbirne leuchtete immer weniger und ging dann gänzlich aus. Eine gebannte Stille breitete sich in dem engen Raum aus. Und plötzlich konnte man dieses typische leise Pfeifen hören. Simon tobte durch den Raum und trat gegen die Tür. Doch er konnte sich nicht befreien. Blumental spürte den bitteren Geschmack des Gases auf der Zunge und blaue und grüne Lichter tanzten vor seinen Augen. Seine Knie wurden ganz weich und er fühlte sich wie in Watte. Dann spürte er einen harten Schlag an seinem Kopf. Er war umgefallen und hatte ihn auf den Kacheln aufgeschlagen. Dann krampfte er sich zusammen und langsam machte sich ein wohliges Gefühl in ihm breit. Das Schreien von Simon rückte in weite Ferne. Dann sah er ein helles Licht mitten im Raum. Und in diesem Licht stand ein Mann, der in wallende Gewänder gehüllt war.
Dieser Mann schritt zwischen den Toten hin und her, bis er vor Blumental stehen blieb und ihn freundlich anlächelte. Dann ging er weiter und seine Licht erhellte nun die Ecke des Raumes. Dort stand Simon und zitterte am ganzen Leib. Aber er lebte. Der Mann blieb vor Simon stehen und steckte seine Hand in sein Gewand. Dann holte er ein Brot heraus und gab es Simon. "Hier Simon! Hier nimm das Brot, auf daß du ewig die Kraft haben wirst um für deine Freunde zu arbeiten." Simon nahm das Brot in seine zitternden Hände und starrte es ungläubig an. Dann vorlosch das Licht des Mannes und es wurde wieder dunkel vor Jakobs Augen. Er fühlte wie er schwerelos nach oben schwebte. Es war warm und er fühlte sich satt und stark. Und als er sich noch einmal umdrehte konnte er das glitzern in den wahnsinnigen Augen Simons sehen.