die gesellschaft als richter über sieg oder niederlage

da sitze ich nun. ich sitze hier und versuche meine, über jahre entwickelte lebenseinstellung hier zu papier zu bringen. schon oft habe ich in einem anfall von größenwahn versucht, diese ganzen feinheiten, die für mich das leben und somit das damit verbundene lebensgefühl ausmachen, in klaren strukturen zusammenzufassen. dabei ist mir aufgefallen, daß ich womöglich extrem weit ausholen müsste, um überhaupt einen adäquaten anfang zu finden. dann aber denke ich bei mir, ich sollte dies alles in gewohnt eloquenter form einfach zusammenwerfen. schließlich geht es mir ja um das gesamtbild, welches erst mit dem letzten pinselstrich fertiggestellt sein wird. das kann ich also auch als aufhänger für meinen ersten und vielleicht wichtigsten grund anführen. was kann es anderes sein, als sozusagen der grundpfeiler meiner philosophie? ich nenne es einfach mal: durch reflexion erarbeitete liberale toleranz. oh ha! das hört sich nach einem dicken ding an. ist es aber garnicht. der leichteste weg, den ein mensch im umgang mit anderen individuen, einschlagen kann, ist doch der, einfach alles zu akzeptieren was sich ihm in seinem leben präsentiert. das wäre dann die variante für leute, die sich nicht die mühe machen wollen, etwas zu lernen. da dies aber geistigen stillstand bedeutet, und ich diesen aus überzeugung verabscheue, gilt für mich, daß man als eigenständiger, autark lebender mensch, durchaus in der lage sein muß, jegliche situation oder jegliches problem mittels toleranter überlegung, dazu gehört vielleicht ein gewisses maß an einfühlungsvermögen, was durchaus erlernbar ist, zu meistern. also diese schreckliche ich-denkweise abzulegen. der versuch, den standpunkt seines gegenübers zu sehen und zu verarbeiten, ist das ding. ein dickes ding? darüber muß jeder selbst für sich entscheiden. hauptsache man setzt sich eben wirklich damit auseinander.

(montag, 30. september 1996)